Plötzlich zur Terroristin gemacht


Lina stammt aus Kassel, ist 25 Jahre alt, Studentin und sitzt seit mittlerweile vier Monaten in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt wirft ihr die Beteiligung an zwei Angriffen auf eine als Neonazi-Treffpunkt bekannte Kneipe in Eisenach sowie deren Betreiber vor. Außerdem soll sie Teil einer “krimiellen Vereinigung” sein, auf deren Konto weitere Angriffe auf Neonazis gehen. Wir haben uns den Fall genauer angeschaut und mit Linas Mutter darüber gesprochen, wie es ist, wenn die Tochter plötzlich “Deutschlands gefährlichste Linksextremistin” (HNA, 9.12. 2020) sein soll.

Solidaritäts-Graffiti für die inhaftierte Lina

Am 5. November 2020 fanden in Leipzig mehrere Hausdurchsuchungen statt. Gegen mindestens drei Personen wird ermittelt. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen die Planung, Vorbereitung und Durchführung von Angriffen auf Neonazis vor. Eine der Beschuldigten ist Lina, die noch am selben Morgen als einzige verhaftet wurde.

Im Sommer 2020 saß Lina schon mal für ein paar Tage in Untersuchungshaft. Der damals gegen sie vorliegende Haftbefehl wurde jedoch nach kurzer Zeit wieder außer Vollzug gesetzt. Die erteilten Meldeauflagen habe Lina ohne jede Beanstandung erfüllt, erklären die Leipziger Anwälte Elberling und Zünbül, durch deren Kanzlei Lina vertreten wird. Doch im November zog überraschend der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich und Lina wurde schon am Folgetag per Helikopter nach Karlsruhe geflogen, um dort dem Bundesgerichtshof vorgeführt zu werden. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Noch überraschender als die erneute Untersuchungshaft war allerdings der anschließende Pressezirkus, erzählt ihre Mutter.

Politisches Verfahren

Linas Mutter bedauert, dass Journalist*innen zwar mit allen Mitteln versucht hätten, im Lebenslauf ihrer Tochter etwas zu finden, woraus sich eine abenteuerliche Story über die vermeintliche Radikalisierung einer unauffälligen jungen Frau machen lässt. Was es mit den einzigen konkreten Vorwürfen gegen Lina auf sich habe, wurde öffentlich jedoch kaum thematisiert.

“Die haben neben alten Schulfreunden oder ihrem Professor sogar meine Mutter, also Linas Oma im Altenheim angerufen und wollten mit ihr über die Verhaftung ihrer Enkelin reden. Mit den konkreten Vorwürfen gegen Lina hat sich da schon kaum noch jemand beschäftigen wollen.”

Linas Mutter

Die konkreten Vorwürfe gegen Lina beinhalten die Beteiligung an zwei Angriffen auf Neonazis in Eisenach. Da wäre zum Beispiel der Angriff auf Besucher und den Betreiber der Gaststätte “Bull’s Eye” im Oktober 2019. Beim “Bull’s Eye” handelt es sich um einen bekannten Treffpunkt von Neonazis in Eisenach. Dessen Betreiber, Leon Ringl, ist eine Führungsfigur der Eisenacher Neonaziszene und unterhält Kontakte zum internationalen Neonazi-Netzwerk “Atomwaffendivision”. Auf deren Konto gehen in den USA mehrere Terroranschläge.

Neonazis terrorisieren in Eisenach schon seit Jahren vor allem nicht-rechte Jugendliche. Als zum Beispiel der antirassistische und antifaschistische Ratschlag 2018 in Eisenach stattfand, versuchen die lokalen Neonazis gleich mehrere Angriffe. Während drinnen ein Theaterstück über die NSU-Morde aufgeführt wurde, standen Antifaschist*innen draußen mehrfach einer Gruppe von Neonazis gegenüber. Die Beratungsstelle ezra registrierte allein für die Dauer des Ratschlags einen Angriff, drei versuchte Angriffe, eine Bedrohung und eine Sachbeschädigung.

Die Liste von Gewalttaten durch Neonazis in Eisenach ist lang und die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher. Das Selbstbewusstsein, mit dem Neonazis in Eisenach ihre Feinde seit Jahren terrorisieren, schöpfen sie wohl zu einem nicht geringen Teil daraus, dass sie selten Gegenwehr oder negative Konsequenzen erfahren haben.

Vor diesem Hintergrund müsse man auch die Schlägerei im “Bull’s Eye” und den Überfall auf ihren Betreiber sehen, findet Linas Mutter. Es handle sich bei Ringl auch nicht um einen arglosen Passanten, sondern gefährlichen Neonazi.

Zusätzlich wird Lina vorgeworfen, im Juni 2020 “zur Vorbereitung eines Anschlags die Wohnanschrift einer Zielperson in Leipzig” ausgekundschaftet zu haben, wie es in der Erklärung der Bundesanwaltschaft heißt. Bei der “Zielperson” handelte es sich um den Leipziger Neonazi Brian Engelmann, der am 11. Januar 2016 gemeinsam mit über 200 weiteren Neonazis und rechten Hooligans den Leipziger Stadtteil Connewitz überfiel.

Wer sich also, wie offenbar viele Journalist*innen, die Frage stellt, wie es zu solchen Gewalttaten kommt, für die nun Lina verantwortlich gemacht wird, sollte womöglich statt in ihrer Biografie zu forschen, die politische Wirklichkeit in Deutschland in den Blick nehmen. In der stellen Neonazis nämlich für viele Menschen tatsächlich eine konkrete Bedrohung dar, mit der es irgendwie umzugehen gilt.

Solidaritäts-Graffiti für die inhaftierte Lina

Auch die Leipziger Soli-Gruppe “Freiheit für Lina” kritisiert, dass der politische Rahmen des ganzen Verfahrens in der Berichterstattung kaum eine Rolle spiele. Mit dem Verfahren gegen Lina und der reißerischen Pressekampagne versuche die Bundesanwaltschaft, ein Exempel zu statuieren.

“Wie gerade mit Lina umgegangen wird, soll vor allem abschrecken. Ganz egal, ob sie am Ende für die ganzen Vorwürfe verurteilt werden kann oder nicht, das politische Signal ist klar: Wer sich in Deutschland gegen Neonazis organisiert, wird mit allen Mitteln verfolgt und öffentlich als Terrorist*in hingestellt.”

Solidaritätsgruppe “Freiheit für Lina”

Dabei reiht sich Linas medienwirksame Inhaftierung nahtlos ein in die jüngste Geschichte politischer Strafverfolgung von Antifaschist*innen in Deutschland allgemein bzw. speziell in Leipzig. Der eigens zur Bekämpfung linker Strukturen in Sachsen gegründeten Soko Linx sei mit Linas Verhaftung ein großer Schlag gegen die Leipziger Autonomen gelungen, war nahezu einhellig in der Presse zu vernehmen. Dabei wurde vor allem unkritisch wiedergegeben, wie Sonderkomission und Bundesanwaltschaft selbst ihren vermeintlichen Ermittlungserfolg bewerteten.

Und ein nennenswerter Erfolg scheint nötig: Der Soko Linx wurde schon bei vergangenen Verfahren vorgeworfen, mit politischer Motivation zu ermitteln und trotz haltloser Beweise den “Ermittlungserfolg auf Biegen und Brechen” herbeiführen zu wollen. Dazu wird besonders der “Schnüffel- und Gesinnungsparagraph” 129 herangezogen, der die Mitgliedschaft und Unterstützung von kriminellen oder terroristischen Organisationen unter Strafe stellt. Der §129 stelle, so heißt es in einer Handreichung der Roten Hilfe Leipzig, eine “gefährliche Besonderheit im deutschen Strafrecht” dar, weil mit ihm nicht auf “individuell nachzuweisende Straftaten” abgezielt werde, sondern “Einzelpersonen aufgrund ihrer Gesinnung in Kollektivhaftung” genommen würden.

Auch Linas zweite Verhaftung und die seitdem andauernde Untersuchungshaft führen ihre Anwälte darauf zurück, dass die Bundesanwaltschaft ihr nun auch vorwirft, Teil einer “kriminellen Vereinigung” nach §129 zu sein.

Wie in anderen 129er-Verfahren scheint auch in diesem Fall die Beweislast äußerst dünn zu sein, trotz umfangreicher Überwachungsmaßnahmen. Linas Anwälte erklären:

“Auch in den Akten dieses Ermittlungsverfahrens sind umfangreich Ergebnisse aus Überwachungsmaßnahmen eingeflossen, die tief in die Privatsphäre von Beschuldigten eingreifen, bis hin zu tagelangen Observationen und Überwachung von Gesprächen in Privat-Pkws. Dennoch sind die “Belege”, die unsere Mandantin in Verbindung mit weiteren Angriffen auf Neonazis bringen sollen, äußerst dünn, so muss eine beiläufige Erwähnung eines Auto-Modells oder die behauptete Beteiligung einer Frau zur Begründung des Tatverdachts ausreichen.”

Presseerklärung der Anwälte Elberling und Zünbül

Ihre Verteidiger stellen sich darauf ein, dass sie unter diesen Bedingungen einen fairen Prozess für ihre Mandantin hart werden erkämpfen müssen. Besonders durch die Berichterstattung finde eine Vorverurteilung statt, findet auch ihre Mutter. Darin wird sich auch auf eigentlich nicht-öffentliche Ermittlungsinterna bezogen. Woher kommen diese Informationen?

Ermittlungsinterna weitergegeben

Weil schon kurze Zeit nach Linas Verhaftung im November zahlreiche Ermittlungsinterna in der Presse auftauchten, sind ihre Anwälte davon überzeugt, dass durch die Behörden Informationen an die Presse weitergegeben wurden. Sie haben deshalb Strafanzeige gegen Unbekannt bei der Bundesanwaltschaft wegen der Weitergabe von Ermittlungsakten gestellt. In ihrer Stellungnahme kritisieren sie zudem die Pressearbeit der Ermittlungsbehörden, die “weit über die Grenzen des Zulässigen hinaus” gehe. Dort heißt es weiter:

[…] wir haben aus Zeitungsartikeln erfahren, dass Ermittler_innen – sehr wahrscheinlich vom LKA Sachsen – in strafbarer Weise Akteninhalte an die Presse durchgestochen haben. Und wir haben aus der Presse erfahren, dass Ermittler_innen dabei einiges an Geschichten erzählen, etwa, dass der vermeintlichen Gruppe, deren Mitglied unsere Mandantin sein soll, auch diverse weitere Straftaten zuzuordnen seien. Die ‘Belege’ für diese These lassen sich in etwa so zusammenfassen: es handelte sich um linksmotivierte Taten, es war vermutlich eine Frau dabei.”

Presseerklärung der Anwälte Elberling und Zünbül

Obwohl sich in den Akten, die auch Linas Anwälten vorliegen, für diese Behauptung keine Belege finden, wurde diese Erzählung von einem Großteil der deutschen Presselandschaft übernommen.

Bemerkenswert findet Linas Mutter außerdem, dass der mehrfach vorbestrafte Eisenacher NPD-Politker Patrick Wieschke schon kurz nach dem Angriff auf Ringl die Namen der mutmaßlichen Täter gewusst und veröffentlicht habe. Auch dass es sich bei Lina um die vermeintliche Kommndoführerin der Aktion gehandelt habe, gehe auf eine Aussage Wieschkes zurück, erzählt sie. Wieder liegt also die Vermutung nahe, dass durch die ermittelnden Behörden Informationen weitergegeben wurden. In diesem Fall allerdings nicht an die Presse, sondern an lokale Neonazis.

Vermeintliche Konspirativität

In der ausufernden Berichterstattung hieß es außerdem immer wieder, Lina habe in Leipzig konspirativ gelebt und auch in der öffentlichen Erklärung des Generalbundesanwaltes wird ihre Untersuchungshaft damit gerechtfertigt. Doch vieles von dem, was dafür als Beleg herhalten muss, erscheint bei genauerem Hinsehen nicht nur nicht verdächtig, sondern ganz gewöhnlich.

Da wird zum Beispiel herausgestellt, dass ihre Mutter die Miete für ihre Wohnung gezahlt habe. Sicherlich keine Besonderheit für Student*innen, dass das Geld für die Miete von den Eltern kommt. Zudem sei Lina der Wohnungsgesellschaft als Mieterin bekannt gewesen, sagt ihre Mutter. Wie deute das auf eine konspirative Wohnung hin? Auch die Zulassung des ersten eigenen Autos auf die Mutter würde unter anderen Umständen wohl niemandem verdächtig vorkommen. Trotzdem wird von vielen Journalist_innen unkritisch die Geschicht von Linas konspirativem Leben in Leipzig aufgegriffen und weitergesponnen.

Solidaritäts-Graffiti für die inhaftierte Lina

Und in Kassel?

Auch wenn bisher Leipzig im Fokus der hier beschriebenen Ermittlungen steht, ist nicht sicher, dass es dabei bleibt. Erste Anzeichen, dass die Ermittlungsbehörden auch in Kassel an Erkenntnissen über Kontakte von Lina interessiert sind, gibt es bereits.

Eine junge Frau aus Kassel, die lieber anonym bleiben möchte, bekam schon kurz nach Linas Verhaftung überraschend eine Zeugenvorladung des sächsischen LKA. Vermutlich, um sie über ihre Verbindung zu Lina auszufragen. Ihr Anwalt habe die ermittelnden Beamten auf formale Fehler im Schreiben hingeweisen und ihnen mitgeteilt, dass sie den Termin nicht wahrnehmen werde. Daraufhin hätten die sächsischen Beamten mehrmals am Tag versucht, sie anzurufen und schließlich sogar vor ihrer Wohnungstür gestanden, um sie zu einem Gespräch zu drängen.

Derzeit müsse also zumindest in Betracht gezogen werden, erklärt die Rote Hilfe Kassel, dass die ermittelnden Behörden auch ein Interesse an den politischen und persönlichen Kontakten von Lina in Kassel haben könnten.

“Wir raten davon ab, auch aus Selbstschutz, ohne anwaltliche Unterstützung auf derartige Anfragen einzugehen. Wenn jemand im Kontext der Ermittlungen gegen Lina in Kontakt mit Polizei oder Staatsanwaltschaft geraten sollte, empfehlen wir, sich umgehend bei der Roten Hilfe zu melden.”

Rote Hilfe Kassel

Auch in Kassel werde außerdem darüber nachgedacht, eine Solidaritätsstruktur für Lina aufzubauen, um die Soli-Gruppe in Leipzig zu unterstützen. Das befinde sich allerdings noch ganz am Anfang, Ziel sei vor allem, Geld für das voraussichtlich sehr teure und langwierige Gerichtsverfahren zu sammeln. Nicht nur für Lina, sondern auch für die weiteren angeklagten Personen. Die würden bei dem Fokus auf Lina oft vergessen. Außerdem koste allein schon ihr Knastalltag während der Untersuchungshaft viel Geld.

Dass sich viele Menschen mit Lina solidarisiert haben, gebe ihr Kraft, die Zeit in Haft zu überstehen, erzählt ihre Mutter. Auch bei ihr hätten sich einige alte Freund*innen gemeldet, die wissen wollten, wie es Lina geht und was man für sie tun kann. Das sei gut, findet sie, denn es sei genau das Gegenteil von dem ist, was mit dem aufwändig inszenieren Prozess erreicht werden soll.