Auftakt des Lübcke-Untersuchungsausschuss


“Wie sah und sieht die rechtsextreme Szene in Nordhessen aus?” – diese Frage stand im Mittelpunkt der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschuss zum Mordfall an Walter Lübcke im hessischen Landtag. Im Ausschuss sollen das politische Umfeld von Stephan Ernst und Markus Hartmann aufgeklärt und etwaige Verfehlungen der Sicherheitsbehörden festgestellt werden.

Der Ausschuss tagt im Plenarsaal des hessischen Landtages unter dem Vorsitz von Christian Heinz (CDU)

Mittlerweile sind neun Monate vergangen, seit das hessische Parlament einstimmig die Einsetzung eines Untersuchungsausschuss zum rechten Attentat auf den CDU-Politiker Walter Lübcke beschlossen hat. Der Beginn der Arbeit des Ausschusses hatte sich bis zum Januar 2021 verzögert, da die Abgeordneten noch auf die Akten aus dem Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann warteten. Nach dem Urteil am 28. Januar soll nun auch die parlamentarische Aufarbeitung beginnen.

Geklärt werden sollen Fragen, die im Prozess kaum eine Rolle spielten: Etwa, warum Ernst und Hartmann für den hessischen Verfassungsschutz seit 2009 als “abgekühlt” galten, obwohl Ernst beispielsweise noch 2011 eine Sonnenwendfeier von NPD- Funktionär Thorsten Heise besuchte und sich später für die AfD engagierte. Auch inwieweit die beiden Neonazis in den Jahren vor dem Mord noch in die Kasseler Szene integriert waren, steht im Fokus. Die-Linke-Politiker Hermann Schaus, stv. Vorsitzender des Ausschusses, hofft, dass man hier “Licht ins Dunkel” bringen kann.

Rechtsextreme Szene in Nordhessen

Die Kasseler Nazi-Szene stand daher auch im Mitteilpunkt der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses. Geladen als Sachverständige waren der freie Journalist Joachim Tornau, Kisten Neumann von dem mobilen Beratungsteam Hessen und der sogenannte Extremismusforscher Rudolf van Hüllen.

Tornau, der mit seinem Kollegen Carsten Meyer seit Jahrzehnten zur rechten Szene vor Ort arbeitet, schätzt die Szene in Nordhessen in ihrem harten Kern auf ca. 100 Personen. Sie sei dementsprechend überschaubar und in erster Linie durch persönliche Bekanntschaften von langjährig Aktiven geprägt. Hieran zeige sich auch ein weiteres Charakteristikum der Szene. Diese besitze seit bald 20 Jahren eine erstaunliche personelle Konstanz, welche Tornau anhand ausgewählter Protagonist/innen nachzeichnet. Insbesondere nach dem Wegfall der Freien Kameradschaft Kassel gebe es, abgesehen von der Burschenschaft Germania, aber kaum mehr feste Strukturen.

Auseinandersetzung nach einer NPD-Aktion 2002. Heute noch immer aktiv: Mike Sawallich (1.v.l.), Stanley Röske (2.v.l.), Christian Wenzel (3.v.r.) Markus Eckel (2.v.r.) und Stephan Ernst (1.v.r.) Bildrechte: NSU Watch

Gleichwohl sei die Kasseler Neonazi-Szene überregional gut angebunden. Entscheidend sei der traditionelle Kontakt nach Thüringen zum neonazistischen Multifunktionär Thorsten Heise. Auch die Sektion des Terrornetzwerkes Combat 18 um den ehemaligen Kasseler Neonazi Stanley R. belegt nach Tornau die Integration in bundesweite Neonazi-Strukturen.

Diese rechtsterroristischen Bestrebungen verdeutlichten auch ein weiteres Merkmal der Szene: die hohe Gewaltbereitschaft. Eine lange von Tornau referierte Liste von Gewalttaten belegt diese Aussage leider.

“Die Anhänger der rechtsextremen Szene in Nordhessen fallen auch deswegen nicht auf, weil das, was sie sagen und denken, teilweise dem entspricht, was auch im bürgerlichen Umfeld gesagt und gedacht wird.”

Joachim Tornau

Trotzdem sei es wichtig, sich die rechte Szene nicht als ein Paralleluniversum aus Springerstiefel, Glatzen und Gewalt vorzustellen. Der überwiegende Teil der Anhängerinnen und Anhänger ist nach Tornau gut in die Gesellschaft integriert; sie seien Mitglieder/innen von Freiwilligen Feuerwehren, Schützenvereinen oder Kirmes-Burschenschaften. Auch die Lebenswelt des Lübcke-Mörders passt in dieses Bild: keine Neonazi-Untergrundzelle, sondern AfD-Stammtische, rechte Kollegen und ein Schützenverein, indem “alle etwas gegen die Flüchtlingspolitik hatten”, bildeten den Ausgangspunkt für seine Tat.

“Die Betroffenen sind selbst Expertinnen und Experten”

Als zweite Sachverständige ordnete Kirsten Neumann vom mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus die Thematik in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Sie betonte, dass die Betroffenen rechter Gewalt diese häufiger – anders als Mehrheitsgesellschaft und Sicherheitsbehörden – als terroristische Taten einordnen würden. Menschen, die nicht in das rechtsextreme Weltbild passen, wüssten, dass die Taten unter anderem der Einschüchterung dienen würden und sie damit auch bei vermeintlichen Einzeltaten in ihrer Existenz mitgemeint seien.

So hatten die Angehörigen des NSU-Opfers Halit Yozgat nach seiner Ermordung eine Demonstration organisiert, die auf die Möglichkeit einer rechten Terrorserie aufmerksam machen wollte – während die Medien noch von “Döner-Morden” schrieben und der Verfassungsschutz während dem Mord gleich mit im Internetcafe der Yozgats saß.

“Es besteht eine Unsicherheit der Betroffenen darüber, wie viel Staat hinter den rechtsextremen Strukturen in Nordhessen steck. Dies führt zu einem Misstrauen der Menschen gegenüber den staatlichen Behörden.”

Kirsten Neumann

Abgesehen von der AfD zeigten die Abgeordneten aller Fraktionen durch gezielte Nachfragen zumindest in dieser ersten Sitzung ein gemeinsames Interesse an der Aufklärung der Hintergründe des Lübcke-Mordes. Ob dieses im Verlauf des Untersuchungsausschusses anhält oder es bei der Frage nach der Rolle der Exekutivbehörden zu politischen Konfrontationen wie im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss kommt, bleibt abzuwarten.

Die zukünftigen Sitzungen will die antifaschistische Initiative NSU-Watch weiter mit regelmäßigen Berichten begleiten. Zu der ersten Sitzung erklärte diese:

„Wir wissen, dass wir uns – entgegen aller Versprechen – auf staatliche Institutionen nicht verlassen können, wenn es darum geht, rechten Terror aufzuklären und zu verhindern. Daher werden wir die parlamentarische Untersuchung des Mordes an Walter Lübcke kritisch begleiten.”

“NSU-Watch”

Die nächste öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschuss tagt am 23. April 2021. Eine Teilnahme von Besucher*innen ist auch hier mit Voranmeldung und Corona-Schnelltest vor Ort wieder möglich.