Der Stephan Ernst Komplex


Im Juni 2019 wurde der CDUler Walter Lübcke in Kassel von Neonazis ermordet. Der nächste Tote in der Stadt durch rechte Terrorgruppen. Obwohl die Schlagzeilen voll sind mit den mutmaßlichen Terroristen Stephan Ernst und Markus Hartmann, tut sich doch erstaunlich wenig in Kassel. Die selben Diskussionen zeigen sich seit dem rechten Terror von Hanau. Den aufmerksamen Betrachtern kann das nicht wundern, denn auch rechter Terror ist ein Produkt einer zutiefst bürgerlichen Gesellschaft, die nach unten tritt und nach oben buckelt.

Ein Kommentar von Christoph Hepp

Irgendwo zwischen spießigem westdeutschen Vorort, in dem die Ära der postfaschistischen 1950er Jahre nie aufhörte zu pulsieren, und den schrägen Kulturgroßstadt-Ambitionen in der Kernstadt steckt der zahlenmäßig überlegene und rohe Kleinbürger in Kassel in seiner Reihenhaussiedlung fest. Seine Feindbilder sind so klassisch wie eingespielt und haben definitiv die falsche Hautfarbe. Meistens bestätigt er sie auf der Durchfahrt zur Arbeit irgendwo zwischen Rothenditmold, Nordstadt und Stern.

Als Ismail Yozgat 2014 öffentlich forderte, die Holländische Straße nach seinem von Neonazis ermordeten Sohn Halit Yozgat zu benennen, drohte ihm das Sprachrohr dieser rohen Bürgerlichkeit Kassels, HNA Redakteurin Ulrike Pflüger-Scherb, mit den denkwürdigen Worten: „Die unrealistische Forderung von Yozgat nach einer Straßenumbenennung erzeugt mittlerweile nicht nur Unmut bei Menschen, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind. Schlimmer ist, dass sie die Position von jenen stärkt, die meinen, dass sich Ausländer hierzulande ohnehin zu viel herausnehmen.“

Es wird aus dem gesellschaftlichen Problem ein Sicherheitsproblem mit passendem Repressionsapparat gemacht, nach bester law-and-order Logik.

Die selbe Pflüger-Scherb fordert 2019 dann ungefragt unbegrenzte polizeiliche Kontrollzonen „Am Stern“ in der Kasseler Innenstadt. Der Stern ist einer der Dreh- und Angelpunkte Kassels. Armut mit all seinen Begleiterscheinungen heißt hier das drängendste Problem. Und sie sticht offenbar jedem wohlhabenden Passanten in unmittelbarer Nähe der „ältesten Fußgängerzone Deutschlands“ unangenehm ins Auge. Dass Armut in der neoliberal durchstrukturierten Bundesrepublik oft Migranten trifft, ist da für den deutschen Rohbürger nebensächlich. Es wird aus dem gesellschaftlichen Problem ein Sicherheitsproblem mit passendem Repressionsapparat gemacht, nach bester law-and-order Logik.

Dabei springt dem Beobachter der soziale Widerspruch in Kassel nicht erst seit gestern ins Gesicht: Man rangiert in der Einkommensliste der hessischen Städte und Gemeinden seit Jahrzehnten ganz weit unten. Nicht nur im Bundesland, auch innerhalb der Stadt verteilen sich Groß- und Kleinbürger gegen die Abgehängten in den Stadtvierteln klar abgegrenzt. Rothenditmold ist so klar arm wie Wilhelmshöhe offensichtlich die dicksten Polster auf dem Konto aufweist. Aber das ist natürlich kein Grund zur Aufregung, schließlich ist es schon seit ein paar Jahrhunderten so.

Derweil wird in der HNA nun also ungeniert gefragt, ob „das Tragen von Messern kulturelle Gründe hat“, wenn es um den Kasseler Stern geht. Da mischt sich in der HNA flugs die Angst vor der offen sichtbaren Armut, dem eigenen Abstieg und die Angst vor vermeintlich Fremden wie in jeder guten AfD-Propaganda-Veröffentlichung.

Da mischt sich in der HNA flugs die Angst vor der offen sichtbaren Armut, dem eigenen Abstieg und die Angst vor vermeintlich Fremden wie in jeder guten AfD-Propaganda-Veröffentlichung.

Obendrein kann die präfaschistische Partei in Kassels letzter Wahl, der Europawahl 2019, mit einem Wahlergebnis von knapp 10% aufwarten. Eine Zahl, bestehend aus rund 10.000 Wählerstimmen, die sich zunächst wunderbar zur Seite schieben lässt, wenn man außer Acht lässt, dass sich die rassistischen und sozialchauvinistischen Positionen von HNA bis CDU durch einen Gutteil der selbsternannten Kasseler „Mitte“ ziehen.

Gleichzeitig war Kassel jahrelang die Heimat des ersten westdeutschen PEGIDA Ablegers, der sich anfangs einer Teilnahme von über 300 Personen erfreute. Für das Protestgeschehen in Kassel eine sehr große Zahl. KAGIDA rief auch zur Störung der Bürgerversammlung in Lohfelden auf, die später Stein des Anstoßes für den Mord an Walter Lübcke werden sollte.

Jeden Montag gaben sich bei KAGIDA Neonazis und das künftige AfD-Klientel die Klinke auf der Straße in die Hand.

Jeden Montag gaben sich bei KAGIDA Neonazis und das künftige AfD-Klientel die Klinke auf der Straße in die Hand. Der enge Vertraute von Stephan Ernst und Neonazi, Mike Sawallich, lief hier mit den Neonazi Burschenschaftern von der Germania Kassel aus dem Wolfsanger, aus deren Reihen Presseberichten zufolge der ehemalige AfD-Jugend-Funktionär Tristan L. entstammt. Michael Werl, Stadtverordneter der AfD Kassel Stadt, soll laut Recherchen der antifaschistischen Gruppe task ebenso Mitglied der neonazistischen Burschenschaft sein, was Werl bestreitet.

Wen wundert in diesem rechten Geflecht noch die praktische und monetäre Wahlkampfunterstützung, durch Spenden und Plakatieren, die der spätere mutmaßliche Mörder Stephan Ernst der AfD zukommen ließ, und auf deren Großdemonstration Chemnitz 2018 er teilnahm. Sogar auf Treffen der Kasseler AfD war Ernst mehrmals zu Gast.

Sogar auf Treffen der Kasseler AfD war Ernst mehrmals zu Gast.

Eine politische Empörung mit Folgen über solche Verbindungen sucht man in Kassel vergeblich. Wieder Ulrike Pflüger-Scherb wiegelt in der auflagenstärksten Zeitung der Region ab: Michael Werl darf sich erklären und seine angebliche Überführung als strammer Neonazi als absurde Fälschung abtun. Dass die HNA für diesen Artikel eine Schelte des Presserates wegen „grob wahrheitsverzerrender Berichterstattung“ erhielt, interessiert dann auch niemanden mehr.

Neonazis in Kassel werden auch sonst seit Jahrzehnten mit stiefmütterlicher Distanz behandelt. Es sei denn, es geht um die obskure Vereinigung „Sturm 18 e.V.“, die für jeden symbolischen Schlag gegen rechts herhalten muss. Denn besser als die springerstiefel- und bomberjackenbewehrten Alkoholiker lassen sich Neonazis kaum verkaufen. Die rechtslastigen Probleme in der Stadt liegen jedoch nicht im Marginalisierten. Allein der unaufgeklärte NSU-Mord und die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme bei diesem Mord, auch „Klein Adolf“ genannt, werfen so viele Fragen auf, dass sie kaum eine Polizeirazzia beantworten könnte.

Es sei denn, es geht um die obskure Vereinigung „Sturm 18 e.V.“, die für jeden symbolischen Schlag gegen rechts herhalten muss.

Doch die nächste Fragebatterie steht an. Der Mordprozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wird 2020 in Frankfurt am Main beginnen. Dass dort die Wahrheit über den Mord und die dahinter liegenden Strukturen offenbar wird, ist nach allen Erfahrungen der letzten Jahre mit dem NSU-Komplex geradezu ausgeschlossen.

Wer sich ernsthaft ein Bild vom Stephan-Ernst-Komplex machen will, sollte sich in Erinnerung rufen, dass Ernst und Hartmann vermutlich jeden Morgen lauthals schimpfend über Ausländer und Drogenabhängige am Kasseler „Stern“ vorbei zur Arbeit im generischen Industriegebiet fuhren. Die Terroristen stehen nicht außerhalb der Gesellschaft, sie sind ihr folgerichtiges Produkt. Auch und gerade in Kassel, wo Rassismus und soziale Segregation an der Tagesordnung sind. Rassismus ist ein giftiges System, das sich seit Jahrhunderten durch die Zwänge des Kapitalismus in die Köpfe gefressen hat. Bürgerliche Parteien, Vereine, Presse und Familien sind angereichert mit diesem Gift.

Wer diese ungerechte Gesellschaft nicht in ihren Grundfesten erkennen will, wird auch nie ihre Terroristen verstehen oder bekämpfen können.