1 ½ Jahre Verhandlungswahnsinn: Pflegedienst erstreitet Tariflohn


“Die Frage wäre: Darf mit der Gesundheit anderer Menschen und vor allem auf dem Rücken von Pflegekräften Gewinn erwirtschaftet werden und ich sage “nein”. Mit dieser Frage kann man anfangen, um dann alle daran anschließenden zu beantworten”

Im Jahr 2018 versprach Gesundheitsminister Jens Spahn, dass das Lohndumping in der ambulanten Pflege eine Ende habe. Doch die Löhne in der Pflegebranche sind weiterhin niedrig und Lohnzahlungen nach Tarif eine Seltenheit. Der Pflegedienst PHB e.V. in Hofgeismar, ein gemeinnütziger Verein, zahlt ab Anfang Juli 2020 seinen 110 Pflegekräften in der außerklinischen Intensivpflege Tariflohn. Dafür hat er 1 ½ Jahre mit den Krankenkassen gestritten. Das bedeutet durchschnittlich 700€ brutto mehr für Vollzeitbeschäftigte.

Wir haben Max interviewt, der für den PHB e.V. die Aushandlungen mit den Krankenkassen geführt hat. Dabei ging es zunächst um den langwierigen Aushandlungsprozess. Im Gespräch wurde darüber hianus die Krux im Bereich der ambulanten Pflege deutlich: Die Pflegenden können im Vergleich zu anderen Branchen Forderungen nach Tariflohn nicht direkt gegenüber ihren Arbeitgebern – den ambulanten Pflegendiensten – durchsetzen, sondern sind darauf angewiesen, dass diese gegenüber den Krankenkassen Tariflohn aushandeln. Dafür fehlt es vielen Pflegediensten aufgrund der Gestaltung des Gesundheitssektors aber oft an Wissen und Ressourcen. Das erklärt unter anderem, warum allein die politische und juristische Feststellung, dass Krankenkassen Tariflohn als wirtschaftlich anzuerkennen haben, noch lange nicht dazu führt, dass die Pflegenden am Ende auch Tariflohn ausgezahlt bekommen.

Das Interview führte Franka Füller

Pressestelle: Im Bereich der ambulanten Intensivpflege, einem Teilbereich der ambulanten Pflege, wird zwischen Pflegedienst und der Krankenkasse ein Versorgungsvertrag ausgehandelt. In diesem wird unter anderem der Lohn der Pflegekräfte festgelegt. Kannst du einmal kurz erklären, wie dieser Aushandlungsprozess typischerweise abläuft?

Max: Grundsätzlich ist es so: Die Krankenkasse sieht eine Grundlohnsummensteigerung von jährlich ca. 2 bis 3 % vor. Der Leistungserbringer, also der Pflegedienst, kann diese Grundlohnsummensteigerung annehmen. Und wenn man die nicht annimmt, um wirklich Tariflöhne zu erstreiten, tritt man mit den Krankenkassen in Einzelverhandlungen. Die Krankenkasse prüft den Pflegedienst dann unter zwei Kriterien. Das erste Kriterium ist das der Plausibilität. Das heißt, dass der Pflegedienst sein ganzes Zahlenwerk offen legen muss. Die Krankenkasse prüft dann Zahlenwerk, was an Sachkosten, Overhead- Kosten, Personalkosten plausibel ist und was nicht. Der zweite Schritt ist der der Wirtschaftlichkeit. Das heißt, die Krankenkasse ist dazu berechtigt, zu beurteilen, ob das, was man z.B. an Löhnen zahlen will oder was man an Sach- oder Overheadkosten angibt, wirtschaftlich ist oder nicht. Dieser zweite Schritt der Wirtschaftlichkeit basiert immer auf dem externen Vergleich. Das bedeutet, dass man von der Krankenkasse mit anderen Pflegediensten verglichen wird und die Problematik ist da natürlich immer, dass man mit den günstigsten verglichen wird. Günstig sind eben diejenigen, die jährlich die 2 oder 3 % Grundlohnsummensteigerung annehmen. Das sind die zwei Prüfungsschritte, durch die man durch muss, wenn man z.B. Tarif zahlen will oder grundsätzlich den Stundenlohn um zwei oder drei Euro erhöhen will.

Ihr habt es jetzt in der Aushandlung mit den Krankenkassen geschafft, einen Tariflohn durchzusetzen. Warum, glaubst du, ist Lohndumping im Bereich der ambulanten Pflege eben keine Seltenheit, sondern der Standard?

Zunächst muss man sehen, dass es in der Pflegebranche unfassbar unterschiedliche Träger gibt. Neben gemeinnützigen Vereinen wie unserem gibt es natürlich auch größere Träger wie die Diakonie oder Caritas. Daneben stehen dann noch investorengetriebene Holdings, die überall ihre einzelnen Standorte haben. Bei diesem Flickenteppich ist es unglaublich schwierig, einen flächendeckenden Tarif auszuhandeln. Und andererseits gibt es für Pflegende im ambulanten Dienst kaum Gewerkschaftsanschlüsse. Pflegende sind es auch schon seit längerer Zeit gewohnt, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten und da fehlt oft die Energie, eine fairere Entlohnung zu fordern. In diesem Flickenteppich sind alle auf sich selbst gestellt. Viele sind als Kleinunternehmer selbst organisiert und nicht groß genug, dass es einen Betriebsrat gibt. Und wenn man dann die investorengetriebenen Pflegedienste betrachtet, dann wird klar, dass die ein Interesse daran haben, nur knapp über Mindestlohn zu zahlen, um die Gewinnmarge möglichst hoch zu halten. Aber auch die kleinen, nicht investorengetriebenen Pflegedienste zahlen oft keinen Tariflohn. Um das zu verstehen ist es wichtig, sich anzuschauen, , wie die meisten ambulanten Pflegedienste aufgebaut sind, denn die sind oft klein und haben nur 15 oder 20 Mitarbeiter*innen. Die verantwortliche Pflegedienstleitung kommt meist selbst aus der Pflege und hat sich irgendwann dazu entschlossen, einen kleinen Pflegedienst aufzumachen. Da sind dann oft nicht die Kompetenzen in BWL oder VWL vorhanden, die Kosten bis zum letzten Cent durchzurechnen und das komplette Zahlenwerk der Krankenkasse gegenüber plausibel darzulegen.

Dann hat der Anspruch der Wirtschaftlichkeit eine fatale Auswirkung auf die Löhne, wenn der Vergleichspunkt immer der Pflegedienst ist, der eben keinen Tariflohn zahlt.

Genau! Dieser Faktor des externen Vergleichs ist eine absolute Farce, wenn man Tariflohn zahlen will und die Wirtschaftlichkeit bedeutet immer den Vergleich mit dem günstigeren Anbieter! Aber das sind oft genau die Pflegedienste, die nicht die Kompetenz haben, um das zu verhandeln oder von dieser Möglichkeit auch gar nicht so unbedingt wissen. Das sind unter anderem Probleme, die zu Lohndumping führen.

Wie du den Aushandlungsprozess beschreibst, klingt das, als würde der Prozess der Prüfung vollständig bei den Krankenkassen liegen. Welche Möglichkeiten habt ihr dann als Pflegedienst, in der Verhandlung einen Tariflohn zu erstreiten?

Zu den Regelungen im Sozialgesetzbuch (SGB) gibt es verschiedene Rechtsprechungen, weil einige wenige Pflegedienste vor Gericht gezogen sind. Die Rechtsprechung sagt für den Prüfungsschritt der Wirtschaftlichkeit, dass die Wirtschaftlichkeit bei Zahlung von Tariflöhnen gegeben ist. Da ist z.B. ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BHG), auf das wir uns immer berufen haben. Wir haben überhaupt erst davon erfahren, als wir den Vortrag einer Anwältin gehört haben, die darauf hingewiesen hat, dass es diese Rechtsprechung gibt und die eine Rechtsgrundlage darstellt, um sich Tariflohn zu erstreiten.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Wir haben uns diese ganzen Rechtsprechungen rausgesucht und uns in den Verhandlungen darauf bezogen. Die erste Reaktion der Krankenkassen auf unsere Forderung nach Tariflohn war dann zunächst “Nein, das geben wir euch nicht, sondern wir geben euch 2,8 % mehr”. Dann haben wir argumentiert, dass es unser Recht ist, dass die Wirtschaftlichkeit bis zur Höhe des Tariflohns nicht angezweifelt wird. Und wenn man sich den Tarif anschaut, für uns z.B. der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD), geht es da um einen Unterschied von 30 bis 35 % was allein den Lohn betrifft. Und darüber hinaus gibt es ja noch weitere Bestandteile des Tarifs, wie z.B. eine bessere Altersvorsorge usw.

Was passiert, wenn man sich in einer solchen Aushandlung nicht einigen kann?

Wenn Pflegedienst und Krankenkasse es nicht schaffen, sich in Einzelverhandlungen zu einigen, erklärt man diese Verhandlung für gescheitert und geht in einen Schiedsgerichtsprozess. Dann gehts zusammen in einen achtstündigen Verhandlungsmarathon. Wenn es danach zu keiner Einigung kommt, entscheidet die Schiedsperson, wie vergütet wird.

Was würdest du anderen Pflegediensten, die auch für einen Tariflohn streiten, raten bzw. an die Hand geben, was ihr aus euren Verhandlungen gelernt habt?

Zum einen ist es wichtig, sich nicht davor zu scheuen, in diese Einzelverhandlungen zu treten. Man muss sich dann im Zahlenwerk ziemlich gut auskennen und auch reinarbeiten. Aber eigentlich ist das meines Erachtens der einzige Weg. Darüber hinaus ist es auch an Verbänden, Materialien bereitzustellen, um alle wichtigen Informationen rund um diese Verhandlungen aufzuarbeiten. Am Ende geht es aber auch um einfache Sachen, z.B. sich untereinander kurz zu schließen. Das kann auch bedeuten, an Pflegedienste heranzutreten, die schon Tarif verhandelt haben, um zu fragen, ob man deren Excel-Vorlagen bekommen kann, mit denen gerechnet wurde. Wenn es das Know-How ist, was fehlt, sollte man versuchen, sich das irgendwie zu besorgen.

Also wäre es wichtig, auf eine größere Vernetzung zwischen den Pflegediensten hinzuarbeiten?

Genau! Der Prozess ist an vielen Stellen einfach sehr einschüchternd. Neben den juristischen Kenntnissen, die man haben muss, gibt es auch einen großen Druck der Krankenkassen und ein Verhandlungsklima, das man aushalten muss. Das Verhandlungsklima ist aber nicht bei allen Kassen so und da hat sich teilweise auch eine Veränderung eingestellt. Trotzdem ist es wichtig das nicht alleine zu machen, sondern zu schauen, welche Anknüpfungspunkte es in den jeweiligen Strukturen gibt, wo man sich Mitstreiter*innen suchen kann. Wenn man das alleine macht, ist das schon sehr zermürbend. Und es zeigt sich, dass viele innerhalb dieses Prozesses aufgeben. Bei uns hat der Prozess 1 ½ Jahre gedauert. Und noch dazu mussten wir mit allen Krankenkassen unserer Patient*innen einzeln verhandeln. Insgesamt haben wir neun Einzelverhandlungen geführt, mit der Barmer, der DAK, der Techniker Krankenkasse, der AOK Hessen, der AOK Nordwest usw. usf. Und von denen stimmen dann manche Kassen dem Tariflohn zu, manche sagen „nein“. Bei einer Kasse waren wir kurz davor, die Aufsichtsbehörde einzuschalten, weil sie uns noch nicht mal mitgeteilt hat, welcher Schiedsperson sie zustimmen. Da kann man eine Strategie erkennen, die auf Demobilisierung der Pflegedienste im Aushandlungsprozess ausgelegt ist.

Du hast in unserem Vorgespräch von der Neoliberalisierung der Pflege gesprochen. Was genau meinst du damit?

Was in den Kliniken mit den Fallpauschalen eingeführt wurde, findet man ähnlich in der ambulanten Pflege vor. Bei beiden Prüfschritten, der Plausibilität und der Wirtschaftlichkeit, ist bis zum letzten Cent alles durchzurechnen. Dann streitet man darüber, wie viele Leute eigentlich im Büro sitzen müssen, um Personalbuchhaltung zu machen. Und da wird dann oft gesagt “Ah nee, zwei Stellen? Das ist zu viel”. Normalerweise hat man immer ein bisschen Spiel, das nennt man den Risikozuschlag, also die Rendite, die liegt zwischen 4 und 6%. In der ambulanten Pflege zeigt sich aber, dass wenn man die Strukturen zentralisiert für z.B. 50 Pflegedienste eine zentrale Verwaltung hat, dann kann man die Verwaltungskosten senken und hat dann eine Rendite von bis zu 15%. Und dadurch ist es auch erst attraktiv geworden für Investoren, da einzusteigen.

Wenn ich mir die Debatte um die niedrigen Löhne in der ambulanten Pflege anschaue, scheint mir eine Frage wiederzukehren: Liegt die Verantwortung für die schlechte Bezahlung bei den einzelnen Trägern oder bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen und dem Finanzierungssystem? Auf der einen Seite kann man argumentieren, dass es einen Verhandlungsspielraum der Geschäftsleitungen gegenüber den Krankenkassen gibt und sie eben Arbeitgeber sind, die eine Verantwortung für die Lohnhöhe haben. Und auf der anderen Seite kann man vertreten, dass die problematische Gewinnorientierung und das Effizienzgebot der Branche in Gesetzen und dem Finanzierungssystem festgelegt sind und sich maßgeblich auf die Struktur der Branche auswirken. Stellt sich dir diese Frage und wenn ja, wie beantwortest du sie dir?

Ich sehe das Problem auch darin, dass da die Verantwortung, sich das zu erstreiten, bei den Leistungserbringern bzw. bei den einzelnen Geschäftsführungen der jeweiligen Pflegedienste liegt. Also das ist definitiv das Problem. Aber es ist, denke ich, ein Grundproblem, dass es in der ambulanten Pflege um Rendite gehen muss bzw. kann, weil es um eine absolut relevante Grundversorgung der Gesellschaft geht. Würde man das ändern wollen, müssten aber ganz andere Strukturen geschaffen werden. Die Privatisierung ist da, meiner Meinung nach, das Grundproblem. Die Frage wäre: Darf mit der Gesundheit anderer Menschen und vor allem auf dem Rücken von Pflegekräften Gewinn erwirtschaftet werden und ich sage “nein”. Mit dieser Frage kann man anfangen, um dann alle daran anschließenden zu beantworten. Aber das würde halt eine Komplettreform des SGBs bedeuten und natürlich der Strukturen, die geschaffen wurden. Darüber brauchts letztendlich eine Debatte.

Vielen Dank für das Gespräch!