Kemal Altun Platz – Umkämpfter Raum in Kassel


Der Platz vor dem Schlachthof heißt seit dem Mai 1988 inoffiziell Kemal-Altun-Platz. Wer war Kemal Altun? Wofür steht er? Wie kam es zu der inoffiziellen Benennung des Platzes?

Ein Gastbeitrag von Louis Lerouge

Die Umbenennung von Straßen und Plätzen ist eine Auseinandersetzung um die symbolische Ordnung und Erinnerungskultur innerhalb des städtischen Raumes. Bekannt ist in Kassel die aktuelle Forderung nach der Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße (Halit Yozgat, 9. und letztes Opfer des NSU). So eine Forderung gab es jedoch schon einmal in Kassel und zwar nach der (Um-)Benennung einer Straße oder eines Platzes nach Kemal Altun. Der Platz vor dem Schlachthof heißt seit dem Mai 1988 inoffiziell Kemal-Altun-Platz, auch in Hamburg im Stadtteil Ottensen gibt es einen von staatlicher Seite nicht anerkannten Kemal-Altun-Platz, beide sind über Google-Maps zu finden. Wer war Kemal Altun? Wofür steht er? Wie kam es zu der inoffiziellen Benennung des Platzes?

Wer war Kemal Altun?

Der am 13. April 1960 in Engiz in der Nähe von Samsun (Türkei) geborene Kemal Altun war ein türkischer Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland. Er verübte am 30. August 1983 im Zusammenhang mit der ihm drohenden Auslieferung an die türkische Militärdiktatur Suizid, indem er aus dem sechsten Stock des West-Berliner Verwaltungsgerichts sprang. Dabei könnte man es belassen, doch lohnt sich eine nähere Betrachtung seiner Geschichte.

Kemal Altun kam aus einer in der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) organisierten Familien, und war selber schon als Schüler und Student politisch aktiv. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 wurden zahlreiche Regimekritiker*innen, auch aus Altuns nächstem Umkreis, verhaftet, gefoltert oder ermordet. Am 8. November 1980 flog der 20-jährige Kemal Altun von Istanbul aus nach Rumänien, da es dort keine Visumspflicht für Bürger*innen aus der Türkei gab. Nach ein paar Tagen fuhr er nach Bulgarien, wo er 20 Tage lebte. Von dort brachte ihn sein Bruder Ahmet Altun mit seinem privaten PKW über Rumänien, Ungarn, in die Tschechoslowakei und über die DDR nach West-Berlin zu seiner dort lebenden Schwester Sultan. Als Kemal Altun einige Monate später durch türkische Zeitungen davon erfuhr, dass die türkischen Behörden ihm eine Beteiligung an der Ermordung des 2. Vorsitzenden der faschistischen MHP und ehemaligen Zoll- und Handelsminister Gün Sazak unterstellten, beantragte er am 7. September 1981 politisches Asyl.

“Am 21. Februar 1983 bewilligte die Bundesregierung die Auslieferung Kemal Altuns an die Türkei, in deren Militärdiktatur ihm laut amnesty international der „Tod durch unmenschliche Haftbedingungen, Folter oder Hinrichtung“ drohte.”

Noch bevor der Asylantrag von dem zuständigen Bundesamt für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bearbeitet worden war, erfuhr die Abteilung Staatsschutz des Polizeipräsidenten in Berlin von seinem Antrag und schaltete das BKA in Wiesbaden ein. Das BKA leitete den Inhalt des Asylantrags im Mai 1982 an Interpol Ankara weiter – verbunden mit der Frage, ob ein Auslieferungsantrag gestellt werde. Noch am selben Tag stellte die türkische Regierung einen Haftbefehl aus und am 18. Mai traf ihre Antwort bei den deutschen Behörden ein: „Der Betreffende wird auf Grund der in Ihren Mitteilungen erwähnten Straftat in unserem Land gesucht …“ Statt Asyl hatte für Altun die Offenbarung seiner Verfolgungsgeschichte beginnend mit dem 5. Juli 1982 die Auslieferungshaft zur Folge. Am 21. Februar 1983 bewilligte die Bundesregierung die Auslieferung Kemal Altuns an die Türkei, in deren Militärdiktatur ihm laut amnesty international der „Tod durch unmenschliche Haftbedingungen, Folter oder Hinrichtung“ drohte.

Im März 1983, nach 13 Monaten unter verschärften Bedingungen in dem Moabiter Gefängnis, wurde er aus seiner Zelle geholt und mit Auslieferungsabsicht in eine Zelle des Polizeigewahrsams in der West-Berliner Gothaer Straße verlegt. Mittlerweile war eine breite Solidaritätsbewegung in Deutschland und Europa entstanden. Gegen die Auslieferung wandte sich eine europaweite Welle von Protesten, Erklärungen und Interventionen, an der sich Abgeordnete aus der Schweiz, Dänemark und England, der Präsident der Raiffeisenbank, amnesty international, humanistische Organisationen, das Kommissariat der Bischöfe, der Hohe Flüchtlingskommissar der UN, mehrere Anwaltsvereinigungen sowie der Europarat beteiligten. Die Abschiebung wurde denn auch durch eine am 2. Mai 1983 von einer durch die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg zugelassenen Beschwerde gegen die Auslieferung zunächst aufgehalten. Doch der Wille der Bundesregierung, Kemal Altun an die türkische Militärdiktatur auszuliefern, blieb ungebrochen.

Am 6. Juni 1983 wird Kemal Altun als Asylberechtiger anerkannt, trotzdem muss er weiter in Haft bleiben. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten erhebt gegen die Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes Klage vor dem Verwaltungsgericht in West-Berlin. Das Verfahren zur Klärung der Frage, ob Altun der türkischen Militärregierung ausgeliefert werden könne, fand ab dem 25. August im sechsten Stock des Oberverwaltungsgerichts Berlin statt. Am zweiten Verhandlungstag lief Altun, nachdem ihm die Handschellen geöffnet wurden, auf ein offenes Fenster im Gerichtssaal zu, stürzte 25 Meter in die Tiefe und starb.

Wofür steht Kemal Altun?

Im Widerspruch dazu, dass Regierungspolitiker*innen den Umgang mit Kemal Altun als „Einzelfall“ bezeichneten, folgten noch weit über hundert vergleichbare Fälle. Ähnliche Vorwürfe konstruierten die türkischen Behörden auch gegen weitere türkische Staatsbürger*innen, die in der Bundesrepublik Deutschland lebten. Seit September 1980 gingen über 150 Auslieferungsersuche ein. Ende 1983 prüfte die Bundesrepublik noch etwa 40 Prozent dieser Fälle, bei 20 Prozent war sie dem Begehren zu diesem Zeitpunkt bereits nachgekommen und hatte die Betroffenen direkt in die Hände ihrer Folterer übergeben. Unterstützt wurde diese Politik durch fragwürdige Entscheidungen bundesdeutscher Gerichte, wie z.B. vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 27. Mai 1982: „Vielmehr ist die Folter in der Türkei ein allgemeines Phänomen, von dem nicht nur linksgerichtete Kurden betroffen sind. […] Folterungen und Misshandlungen von Personen, die eines politischen Delikts verdächtigt werden sind häufiger und schwerer als diejenigen von sonstigen Verdächtigen. Hierin kann indes in Bezug auf die staatliche Motivation keine politische Komponente gesehen werden. Darüber hinaus dürfte sich das Phänomen, daß Folter und Misshandlung relativ stark gerade im Vorfeld des politischen Strafrechts verbreitet sind, nicht zuletzt auch auf kriminaltechnische Besonderheiten zurückführen lassen. […] Mit politischer Verfolgung hat dies nichts zu tun …“ (InfAus1R 1982, 255).

“Am zweiten Verhandlungstag lief Altun, nachdem ihm die Handschellen geöffnet wurden, auf ein offenes Fenster im Gerichtssaal zu, stürzte 25 Meter in die Tiefe und starb.”

Der „Fall“ Kemal Altun ist eher typisch für die bundesdeutsche Türkeipolitik. Die „besonderen Beziehungen“ werden von folgenden politischen Prämissen bestimmt:

  • Rückführung möglichst vieler Arbeitsemigrant*innen und deren Familien
  • Als notwendige Voraussetzung dieser Politik: die Verhinderung eines weiteren Zuzugs
  • Unterstützung der Türkei in militärischen und sicherheitstechnischen Bereichen zur Stabilisierung der Süd-Ost-Flanke der NATO.

Rassist*innen sprühten damals„Türken raus“ an die Wände und die NPD machte damit Wahlkämpfe. Die Forderung „Türken raus“ gehörte aber vor über 35 Jahren auch zu den politischen Plänen von CDU und CSU und sie stießen dabei auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Unter anderem mit dem Versprechen, die Zahl der Ausländer*innen in Deutschland drastisch zu reduzieren, hatte Helmut Kohl die Bundestagswahl am 6. März 1983 gewonnen. „Über die nächsten vier Jahre werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren“, so hatte es Kohl vier Wochen nach seiner Wahl gegenüber der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher offenbart. Die schwarz-gelbe Koalition verabschiedete 1983 ein entsprechendes „Gesetz zur befristeten Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“. 10.500 DM (knapp 5.400 EUR) bot man den Türk*innen als Abschiedsgeld und Auszahlung ihrer Rentenversicherungsbeiträge, wenn sie in ihre „Heimat“ zurückzögen. Von den ca. 1,5 Millionen in der Bundesrepublik lebenden Türk*innen nahmen etwa 100.000 das Angebot an.

Wie kam es zur inoffiziellen Benennung des Platzes?

Im Jahre 1985 kam es in Kassel auf kommunaler Ebene zu rot-grünen Koalitionsverhandlungen, in denen vereinbart wurde, eine Straße oder einen Platz in Kassel nach Kemal Altun zu benennen. Dazu braucht es die Zustimmung der Ortsbeiräte, die es allerdings nicht gab. Es fand sich kein Ortsbeirat für eine (Um-) Benennung.

So wurde auf dem Internationalen Frühlingsfest im Mai 1988 in Anwesenheit des Bruders vom Kemal Altun, der Platz ohne Städtische Zustimmung umbenannt und das Straßenschild eingeweiht. Am gleichen Tag wurde an der Seitenwand des Schlachthofgebäudes ein Relief des türkischen Bildhauers Eyüp Öz — der ebenfalls anwesend war – angebracht, das auf das Schicksal Altuns Bezug nimmt. Es zeigt eine Hand, die in Ketten gelegt ist und eine Rose hält. Zusammen mit der darunter angebrachten Inschrift „Politisch verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16.2.2 GG)“ sollte und soll es auch heute noch an die hoffnungslose Situation von Abschiebehäftlingen erinnern. Eine offizielle Platzbenennung gab es bis heute nicht, sodass es sich um keinen offiziellen Straßennamen handelt.