Der Kampf gegen die Schließung der Kreisklinik Wolfhagen im Landkreis Kassel eint eine ganze Region gegen ein absurdes Gesundheitssystem und die Alleingänge des Oberbürgermeisters von Kassel. Bericht über eine vorläufige Klinikschließung zur Zeit des Coronavirus und einer Amokfahrt.
Als 2005 die Kreiskliniken Wolfhagen und Hofgeismar im Landkreis Kassel Teil des städtischen Klinikkonzerns Gesundheit Nordhessen Holding (GNH) wurden, konnte sich wohl kaum jemand das zerknirschte Ende dieser ökonomischen Zusammenarbeit 15 Jahre später ausmalen. Die Vertragsidee: Der große städtische Klinikkonzern GNH hilft mit viel Know-How dem kleinen Krankenhaus, bessere Gesundheitsleistungen zu gewährleisten. Die Stadt Kassel hat dabei die Haupteignungsrechte, der Landkreis Kassel steigt als Juniorpartner in den Konzern ein.
Der erste Versuch
Im Herbst 2019 kündigte die GNH dann die abrupte Schließung der Kreisklinik Wolfhagen an. Es lohne sich nicht, diese Klinik weiter zu führen, so die verbreitete Argumentation. Es würden keine schwarzen, sondern nur rote Zahlen geschrieben. Ein Großteil der Belegschaft erfuhr von der Schließung aus der Regionalzeitung und der danach eilends einberufenen Betriebsversammlung, die nur von Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle abgehalten wurde. Doch es gebe keine betriebsbedingten Entlassungen, so der Konzern und war schon dabei, die Mitarbeiter im städtischen Klinikum Kassel und an anderen Standorten unterzubringen. Das Personal werde woanders gebraucht, Wolfhagen lohne sich nicht, es brauche keine veraltete Landklinik in knappen 30 Minuten Fahrtzeit vom Kasseler Klinikum entfernt und der Klinikkonzern lege eine Neuorientierung vor, so trompetete der Klinikkonzern über die Lokalpresse. Ein Beratungsunternehmen hatte die sogenannten Neuausrichtungen und Einsparungen im ersten Halbjahr 2019 vorgeschlagen.
Die Entscheidung, die Klinik zu schließen, lag jedoch genau genommen nicht allein in den Händen des Aufsichtsratsvorsitzenden der GNH, namentlich Christian Geselle (SPD). Auch der Juniorpartner, der Landkreis Kassel, vertreten durch Landrat Uwe Schmidt (auch SPD), hätte eigentlich zustimmen müssen. Das gemeinsame Gremium, die Hauptversammlung der GNH AG mit Eignungsrechten von 92,5% Stadt und 7,5% Land, wurde aber geflissentlich ignoriert, indem man es gar nicht erst befragte, wobei es ein einstimmiges Votum hätte geben müssen.
Ein ins Feld geführtes Gerichtsverfahren gegen diesen Alleingang renkte die Verhältnismäßigkeit wieder ein, aber zog den Trennstrich rigoros. Der Landkreis kämpfte unter der Taktgebung des Bürgervereins „Förderverein Kreisklinik Wolfhagen“ (FKK-WOH) um seine Klinik, zum Missfallen des Arbeitgebers GNH in Personalunion mit dem Oberbürgermeister von Kassel. Hinter verschlossenen Türen rumorte es nach der gerichtlichen Feststellung der Unrechtmäßigkeit der Schließung. Alleingänge der GNH sollten jedoch für die kommenden Monate eine prägende Größe bleiben.
Widerstand in Wolfhagen
In Wolfhagen war man empört über den Schließungsplan. Das örtliche Krankenhaus ist für viele Ältere die nahegelegene Gesundheitsversorgung für allerlei alltägliche Gebrechen. Auch Notfälle können in der Notaufnahme wesentlich zeitnaher versorgt werden. Schließlich ist das naheliegendste Krankenhaus in Kassel erst nach 35 minütiger Fahrt erreichbar. Kleinere Eingriffe können nahe an den Wohnorten der Patienten vorgenommen werden, was Besuche vereinfacht. Grundsätzlich fragt sich auch, wieso eine Grundversorgung mit Liegekapazitäten und Notfallaufnahme überhaupt „zu viel“ sein kann.
Das sprichwörtliche versuchte Einstampfen hatte allerdings ein Vorspiel im Dezember 2013. Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Kreisklinik Wolfhagen die Geburtshilfe dicht gemacht. Angeblich wegen zu wenig Kompetenzen und dem bei Ökonomen beliebten Argument, dass es sich eben ökonomisch nicht lohne. Seitdem werden mehr Kinder auf der Reise ins 30 Minuten entfernte Kassel geboren, Geburtsort Landstraße. „Die Geburtenstation hat halb Wolfhagen auf die Welt gebracht. Die Schließung wegen mangelnder Qualität durch Nicht-Erreichung von 400 Geburten im Jahr muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.“, sagt man im Förderverein Kreisklinik Wolfhagen, “Das waren doch ausschließlich Profitgründe.”
“Die Geburtenstation hat halb Wolfhagen auf die Welt gebracht. Die Schließung wegen mangelnder Qualität durch Nicht-Erreichung von 400 Geburten im Jahr muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das waren doch ausschließlich Profitgründe.”
Der Verein war damals gegen das Ende der Geburtshilfe entstanden und organisierte Proteste, die großen Widerhall in Wolfhagen fanden. Das war jedoch vergebens, die Station wurde geschlossen. Mit diesem Unmut im Gepäck organisierte sich der Förderverein im Herbst 2019 umso schneller gegen die endgültige Klinikschließung.
Die Auseinandersetzung um die Klinik sollte über die kommenden Monate absurde Züge annehmen. Der Unmut eines Großteils der Wolfhager, festgehalten mit später knapp 15.000 Unterschriften gegen die Schließung, zunächst großzügig von den Verantwortlichen in dern Gremien der Stadt ignoriert. Dasselbe passierte mit den Protesten auf den Wolfhager Straßen mit bis zu 500 Teilnehmenden. Währenddessen sammelte sich das Protestlager allerdings nachhaltig: Ärztenetz, Parteien des Landkreises, Wolfhager Landsenioren, die Stadtverordneten Zierenberg und viele mehr schlossen sich der Forderung an.
Der Vorwurf der Wolfhager an die GNH: Die Kreisklinik im Grunde als Verlustobjekt genutzt zu haben. Will meinen: Hier wurden Verlustposten des Konzerns mit Pflege und Liegezeiten ausgelagert, die Stellen der Ärzte nicht nachbesetzt, Infrastruktur nicht nachgebessert. Und nun wollte man die eigene Misere mit der Übernahme des Fachpersonals, dem es in Kassel mangelt, beenden.
Schließung per Brandschutz
Nachdem der Gerichtsentscheid zu Ungunsten der GNH ausging, wurde jedes Voranbringen der Schließungsidee gerichtlich verboten. Der Konzern durfte öffentlich nicht mehr darüber sinnieren, wie man Wolfhagen am Besten schließen sollte. Dass die Überlegung jedoch offensichtlich weiter gesponnen wurde, zeigte sich nicht nur in den verdrucksten Redebeiträgen der GNH Deligierten auf Diskussionsveranstaltungen wie dem HNA Lesertreff im November 2019. Ein weiteres Haus der GNH im Landkreis Kassel, das Krankenhaus in Hofgeismar, wurde plötzlich in die Diskussion einbezogen. In alter Teile-und-Herrsche-Tradition wurde von Konzernseite aus argumentiert, dass Hofgeismar schließen müsse,wenn Wolfhagen offen bleibe.
Im Oktober 2019 dann das Angebot der GNH an den Landkreis im Stil einer Pistole auf der Brust: Kauf des Krankenhauses, wobei eine Brandschutzsanierung und Übernahme der Kosten für die Sicherstellung der Notfallversorgung nötig wäre, oder Schließung der Kreisklinik Wolfhagen. Hier wird deutlich: Die Stadt Kassel und die GNH wollen eine Finanzierung der hausgemacht unterfinanzierten Kreisklinik um jeden Preis vermeiden, nach Möglichkeit mit Übernahme des vertraglich an die GNH gebundenen Personals.
Während die Fronten an einem Lesertreff der HNA zum Thema schon im November aufeinander prallten, ließ sich auf Diskussionseinladung des FKK-WOH sich kein Vorständsmitglied der GNH blicken. Doch in jeder Veranstaltung diskutieren die Konfliktparteien im Grunde eine lokale Notversorgung mit Basismedizin und eine Krisenvorsorge für Grippepandemien gegen eine rein ökonomische Abwägung. Richtig gelesen: Schon vier Monate vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde öffentlich kritisiert, dass es eine Fehlentscheidung wäre, ein Krankenhaus mit Liegestation und Beatmungsplätzen zu schließen. Als Kompromissvorschlag soll ein Ärztehaus ohne jede stationäre Versorgung herhalten. Ein Vorschlag gegen den sich der Förderverein und seine Mitstreiter stellen, so oft er auch in den letzten Monaten erhoben wurde. Ihnen geht es um die stationäre Nahversorgung mit Basismedizin.
Trotzdem sich auf Stadt-, Landes- und Bundesebene mit dem Thema befasst wurde, nicht zuletzt die Fraktionen der Linken spielten hier eine prägende Rolle, wurde im Januar 2020 die Grundfinanzierung des Notfallbetriebs von 400.000 Euro auf Landesebene endgültig abgelehnt. Was die finanzielle Schlinge enger zog. Währenddessen unterbreitete die GNH in der Lokalpresse weitere Verkaufsangebote an den Landkreis mit Summen von 3,2 Millionen Euro.
Am 21. Februar 2020 dann das unrühmliche Fanal in der Schließungsdebatte. Christian Geselle beschließt mit einem windigen Brandschutzgutachten aus München im Gepäck, dass die Klinik mit sofortiger Wirkung schließen muss. „Das war ein politischer Amoklauf von Christian Geselle der den Menschen im Landkreis nur noch ambulante Behandlung zubilligen wollte“, stellt man verbittert im Förderverein fest. „Wir erleben hier einen Politikstil mit Methoden wie ein Donald Trump.“
„Das war ein politischer Amoklauf von Christian Geselle, wir erleben hier einen Politikstil mit Methoden wie ein Donald Trump.“
Und damit steht man nicht alleine. In einem Gerichtsverfahren vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt wird Geselle und dem GNH Vorstand eine „dubiose Rechtssauffassung“ bescheinigt. Wie andere Städte unliebsame Kneipen oder Vereinsheime mit dem Totschlagargument Brandschutz dichtmachen, so wird in Kassel ein ganzes Krankenhaus geschlossen.
Dass der Brandschutz erweitert werden musste, steht für die Verantwortlichen außer Frage. Welche Dringlichkeit das habe, ist jedoch sehr fraglich. So wurden noch im Januar vor dieser „Schließung mit dem Brecheisen“ neue Brandmeldeanlage installiert und weitere Ausbauten geplant – natürlich in Kooperation mit der Wolfhager Brandschutzdirektion. Selbst der Landkreis kam zu dem Schluss, dass hier jede Verhältnismäßigkeit in den Wind geschlagen wurde.
Pandemie und Amokfahrt
Es dauerte nur zwei Tage nach ihrer Abmeldung vom Notfallnetzwerk, bis die Notaufnahme der Klinik dringend gebraucht worden wäre. Im benachbarten Volkmarsen fuhr ein Amokläufer mit seinem Auto in eine feiernde Menschenmenge. Die 154 teils schwer Verwundeten wurden neben Kassel bis nach Paderborn und Bielefeld gefahren, während die 11 Minuten entfernte Wolfhagener Notaufnahme leer blieb. Dabei meldete sich das Krankenhaus innerhalb kürzester Zeit nach einem Rundruf einsatzbereit.
Die nach der Schließung zuhause gebliebene Belegschaft der Notaufnahme „stand mit Gewehr beifuß“, nachdem sie von dem Unglück erfuhren, weis man im Förderverein. Man ist auch Monate danach noch empört: „Diese endgültige Abmeldung an der Leitstelle ist offensichtlich ein Politikum, Geselle wollte endgültig zeigen dass es Wolfhagen nicht braucht in der Notfallversorgung in Kassel und Umgebung.“ Am Ende zeigte man dies auf auch auf Kosten der Patienten.
„Diese endgültige Abmeldung an der Leitstelle ist offensichtlich ein Politikum, Geselle wollte endgültig zeigen dass es Wolfhagen nicht braucht in der Notfallversorgung in Kassel und Umgebung.“
Die selbe Vorgehensweise zeigte sich auch in der Bearbeitung der Anfänge der Corona-Pandemie im März diesen Jahres. Obwohl in Wolfhagen 84 Krankenhausbetten mit für weniger schwere Verläufe ausreichender Sauerstoffbehandlung bereitstehen, wurde die Klinik für den Bettenvorhalt des Landkreises im Pandemiefall nicht berücksichtigt. Der Katastrophenschutz hätte anfänglich nach dieser Logik eher eine Turnhalle als Behandlungszentrum akquiriert, als eine voll ausgestattete Klinik zu nutzen.
Der Landkreis Kassel ging letztendlich den Verkaufsangeboten der GNH nach und suchte ab Februar einen neuen Klinikbetreiber. Nach Presseberichten soll sich der katholische Klinikkonzern Agaplesion den Betrieb übernehmen, natürlich nach kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien, nicht nach gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen. Die Klinik Wolfhagen soll ab dem 01. Juli 2020 wieder ihre Tore öffnen, nun unter neuen Vorzeichen. Die Gesundheit Nordhessen Holding gab sich geschlagen. Zumindest hat sie es geschafft, die Klinik, die sich angeblich nicht lohnt, loszuwerden.
Die Geldmaschine Krankenhaus
Doch wie „lohnt“ sich eigentlich ein Krankenhaus? Schließlich ist die Entwicklung der Krankenhauschließungen kein Einzelfall in Wolfhagen. Nach einer Reform der Krankenhausfinanzierung im Jahr 2003 kippte die Finanzierungsgrundlage des bundesdeutsche Gesundheitssystem vom Schlechten ins Schlechte. Idee der Reform war, die Profitorientierung der Krankenhausbranche ein für alle Mal einzuschreiben. Die vorher üblichen tagesgleichen Pflegesätze, plus Entlohnung für kompliziertere Operationen, wurden von die sogenannten „Diagnosebezogenen Fallgruppen“ sprich DRG Fallpauschalen abgelöst. Vordergründig um die Vergleichbarkeit von Krankenhäusern zu gewährleisten, hauptsächlich aber um die Krankenhäuser in eine Konkurrenz zueinander zu setzen, die Kosteneinsparungen auf dem Rücken der Patienten ermöglicht.
Endgültig wurde jedoch ein Abrechnungssystem, basierend auf Pauschalen etabliert, das den Aufenthalt im Krankenhaus an verschieden ausgepreiste Eingriffe koppelt. Dieses System bewirkt, dass hochkomplexe Eingriffe und ihre Nachsorge mit viel klingender Münze in der Kasse zu Buche schlagen. Für Schnödes wie Knochenbrüche, Blinddarmentfernungen und deren Liege- und Pflegezeiten gibt es nur einen schmalen Taler von den Krankenkassen zurück.
Das Problem für kleinere Häuser und ländliche Gegenden: Knochenbrüche und Blinddarmentfernungen sind alltäglich, komplexe Eingriffe nicht möglich. Eine flächendeckende Grundversorgung mit Liegekapazitäten und Notaufnahmen wird auf das gerade noch- bis unerträgliche Mindestmaß heruntergefahren, da die monetären Mittel gestrichen werden. Gewinne werden nur durch die Konzentrierung von Spezialisierungen gemacht. Die Folge ist, dass mit den „Maximalversorgern“ Gesundheitshochburgen in den Großstädten entstehen, die durch ein breites Angebot an komplexest möglichen Eingriffen Gewinne produzieren können.
Zusätzlich zu dieser Stadt-Land-Schere werden grundsätzlich durch die unablässige Kodierung und Abrechnungslogik in den Krankenhäusern Liegezeiten nach Möglichkeit gedrückt und das Personal einem wesentlich höheren Druck der Wirtschaftlichkeit ausgesetzt, wohlgeplanter Personalabbau inklusive.
Der Todesstoß für die Finanzierungsgrundlage von Wolfhagen ergab dann der Entzug des Liquiditätszuschlags für die Sicherstellung der Notfallversorgung von 400.000 Euro vom Land Hessen, da Wolfhagen angeblich überflüssig sei. Hier wurde offenbar ein beliebiger Online-Routenplaner bemüht, um herauszufinden dass eine Fahrt von Stadt zu Stadt unter besten Bedingungen knapp unter 30 Minuten dauert. Die angestrebte Abdeckung von Notaufnahmen nach Landesgesetz sind 30 Minuten Fahrtzeit. In der Realität sind die Fahrtzeiten natürlich zwischen den Krankenhäusern 35-40 Minuten.
Der Landkreis Kassel fürchtet bei der Schließung und Einschränkungen der Kreiskliniken zurecht mit einem massiven Attraktivitätsverlust für Bewohner und Zuziehende. Darüber hinaus ist die Notaufnahme Wolfhagen ein regelrechter Zulieferbetrieb für den Maximalversorger Klinikum Kassel. Die Profite für komplexe Eingriffe werden dort abgefasst, die Nachsorge und Liegezeiten in Wolfhagen abgewälzt.
All diese Probleme treffen wohlgemerkt auch auf die Kliniken in öffentlicher Hand zu. Auf dem Papier ist die GNH Aktiengesellschaft ein städtischer Betrieb. Sie wurde in der Neoliberalisierung des Gesundheitssektors seit den 1990er Jahren in eine ökonomisch durchplanbare Form gebracht, um der Profitorientierung zu entsprechen.
Auch die Zentralisierung auf das Klinikum Kassel, die der Schließung von Wolfhagen ursächlich war, lässt sich nur über diese Entwicklung erklären. Kleine Häuser müssen schließen, weil sie sich nach dem absurden Abrechnungssystem nicht mehr „lohnen“. Diametral dazu steht aber ihre Nützlichkeit. Denn die Nahversorgung der Bevölkerung mit basismedizinischer Betreuung ist eine der Grundfesten eines guten Gesundheitsystems. Im bundesdeutschen Schnitt wird diese Versorgung durch die Einführung des DRG Systems immer weiter zugeschnitten.
Förderverein und Gewerkschaft
Den Protest gegen diesen Komplex hatte der Förderverein Kreisklinik Wolfhagen hauptverantwortlich unter seine Fittiche genommen. Über 15.000 Unterschriften, 3 gut besuchte Kundgebungen und nicht zuletzt ein beachtliches Durchhaltevermögen gegenüber mächtigen Gegenspielern dürfen sich auf dem politischen Parkett mehr als sehen lassen. Dieser politische Rückenwind und Verankerung einer Protestbewegung ist im eher ländlichen und ruhigen Wolfhagen doch erstaunlich, kennt man entschlossenen Protest gegen Sozialabbau meist eher aus den Großstädten der Republik.
Der Förderverein, der quer durch die politische Landschaft aufgestellt ist, gründete sich anlässlich der Geburtshilfeschließung 2013 und protestierte damals schon gegen die Sparmaßnahmen. Mit den Schließungsdrohungen im September 2019 bekam der Verein einen neuen Aktivitätsschub. Der Kampf für den Erhalt der Klinik, ein Aufgabenfeld traditionell eigentlich von Gewerkschaften abgedeckt, ist hier durch einen Verein ohne strukturelle Einbindung großer Teile der Belegschaft aufgenommen worden. Zunächst hielt mehr bürgerschaftliches Engagement der Wolfhager den Protest hoch, weniger die Klinikbelegschaft selbst. Zwar besteht der Beirat des Vereins aus höherrangigem Klinikpersonal, die restliche Belegschaft war jedoch über lange Zeit kaum vertreten. Und das hat auch Gründe, da das Engagement im Förderverein für den Erhalt der Klinik nach bester Union Busting Manier eingeschüchtert wurde.
Die zuständige Gewerkschaft ver.di ist in der GNH zunächst sehr gut aufgestellt: Mit einer sehr hohen Organisationsquote ist die GNH mit ihrem Flaggschiff Klinikum Kassel eine Gewerkschaftsbastion. Jedoch ist auch hier die Zentralisierung auf Kassel zu erkennen – im Betriebsrat der GNH ist die Belegschaft des Klinikums überrepräsentiert, die zugehörigen Kreiskrankenhäuser haben kein besonderes Stimmgewicht. So lässt sich auch die Tatenlosigkeit bis Zustimmung erklären, die der Betriebsrat und ver.di Nordhessen angesichts der drohenden Schließung von Wolfhagen an den Tag legten.
Die ver.di Nordhessen schlug sich folgerichtig in Punkto Klinikschließung sogar auf Arbeitgeberseite und unterstützte gegen den Willen der Wolfhager Bevölkerung die Interessen der GNH. Die Basis der Belegschaft wurde von Betriebsrat und Gewerkschaft zu diesem Punkt weder befragt noch informiert. Ein klassisches Co-Management für die GNH. Argumentiert wurde, dass die geltenden Tarifverträge der ver.di bei der Arbeit in einer anderen Filiale der GNH immer noch mehr Leistungen böten als der Erhalt der Wolfhager Klinik unter anderen Klinikkonzernen. Eine Feststellung, die zwar objektiv richtig ist, jedoch jede andere Ebene des Komplexes außer Acht lässt. Die Entwicklungen in der Krankenhauspolitik blieben völlig unkommentiert.
“Ver.di hat bei der Schließung des Krankenhaus Wolfhagen ebenfalls versagt. Weder hat man die Belegschaft in Wolfhagen, noch der gesamten GNH in Entscheidungen miteinbezogen oder eingeweiht. Das ist intransparente Betriebsratspolitik.”, munkelt man hinter vorgehaltener Hand bei ver.di Beschäftigten, denn selbst intern ist der Kurs umstritten: “Viel eher hätte man gemeinsam mit der Belegschaft dem bundesdeutschen Spardiktat im Gesundheitssektor auch aus Gewerkschaftsperspektive den Kampf ansagen müssen.”
“Ver.di hat bei der Schließung des Krankenhaus Wolfhagen ebenfalls versagt. Weder hat man die Belegschaft in Wolfhagen, noch der gesamten GNH in Entscheidungen miteinbezogen oder eingeweiht. Das ist intransparente Betriebsratspolitik. Viel eher hätte man gemeinsam mit der Belegschaft dem bundesdeutschen Spardiktat im Gesundheitssektor auch aus Gewerkschaftsperspektive den Kampf ansagen müssen.”
Dass es in diesem Fall jedoch nicht um die Beträge auf den Gehaltsrechnungen geht, sondern um die grundsätzliche Frage welche Art von Gesundheitsversorgung einer Region zuteil wird und ob man nun im Nahumfeld oder in der nächstgelegenen Großstadt seinen Arbeitsplatz findet, taucht in dieser Politik kaum auf. Ob nun ein Hinterzimmergespräch oder völlige Betriebsblindheit zu der Stellungnahme von Betriebsrat und Gewerkschaft führte, lässt sich nur mutmaßen. Doch auch die Belegschaft ist gespalten, nicht alle wollen kirchliche Verträge bei Agaplesion unterschreiben.
Dabei gab es vor einigen Jahren schon zarte Versuche, die Investitionspolitik der GNH zu kritisieren. Ver.di problematisierte damals die sich abzeichnende Finanzierungsmisere der Kreiskliniken Wolfhagen und Hofgeismar in öffentlichen Statements. Jedoch ohne weiteren Erfolg oder Konsequenzen. Ein Weg, für den sich eine Gewerkschaftsbewegung wieder stark machen kann, denn jede Schließung ist auch ein Zeichen für den Ökonomisierungszwang im Gesundheitswesen.
Nach der Rettung der Klinik Wolfhagen unter die Fittiche des Landkreises verzeichnet nun der Förderverein viele Neueintritte. Man kann mittlerweile bald von einem hohen Organisierungsgrad der Belegschaft reden, der sich dort festigt, natürlich weitab des gewerkschaftlichen Gedankens. Vorher war das nicht selbstverständlich, da es Druck und Drohungen aus der GNH gab, dass Klinikmitarbeiter in Wolfhagen ihren Job verlieren, wenn sie aktiv für den Förderverein würden. Man kann hier fast von Union Busting ohne Gewerkschaft reden. Viele aus der Belegschaft Wolfhagens haben jetzt erst die Möglichkeit, dem Verein beizutreten, nachdem klar ist, dass man seinen Job nicht mehr verlieren kann. Der Förderverein resümiert nicht ohne Stolz: „Diese Klinikrettung ist ein enormes demokratisches Signal. Mit den Menschen im Wolfhager Land zusammen wurde den Mauscheleien einer Politik hinter verschlossenen Türen eine klare Absage erteilt.“
„Diese Klinikrettung ist ein enormes demokratisches Signal. Mit den Wolfhagern zusammen wurde den Mauscheleien einer Politik hinter verschlossenen Türen eine klare Absage erteilt.“
Ein demokratisches Signal
Eine Einbindung in die Bevölkerung, die nicht zuletzt auf einen zentralen Punkt der Forderungen des Vereins hinweist. Im Aufsichtsrat der neuen Kliniklandschaft Wolfhagen soll der Förderverein einen Sitz bekommen, um den Anfang einer demokratischen Teilhabe von Bevölkerung und letztendlich auch Belegschaft zu sichern. So zumindest der eigene Anspruch. Man fühlt sich fern an kollektive Modelle erinnert, wenn die Rede davon ist, dass der Klinikbetrieb nach all den schlechten Erfahrungen der letzten Monate demokratisiert werden soll. Bis zu welchem Grade und wie der demokratische Anspruch letztendlich umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Die letztendliche Übernahme durch Agaplesion lässt in Punkto Mitbestimmung leider nicht viel erwarten.
Eine genossenschaftliche Gesundheitsversorgung wäre jedoch kein Hirngespinst von Sozialutopisten. Im brandenburgischen Spremberg kaufte, ebenfalls über einen Förderverein, die Belegschaft ihre eigene Arbeitsstelle auf und hält 51 Prozent der Klinikanteile. In Spremberg gehört das Krankenhaus 300 „Chefs“, die sich die Arbeit teilen. Eine Hinterzimmerpolitik, wie sie Geselle in Wolfhagen vorlegte wäre in einem solchen Setting unmöglich.
Ab Juli 2020 wird die Klinik einen neuen Weg einschlagen, Kreis und Stadt haben ihre Gesundheitsversorgung voneinander weiter entkoppelt. Christian Geselle hat als Oberbürgermeister von Kassel bewiesen, dass er zwar das Zeug zum intriganten Alleinherrscher hat, allerdings nicht einmal zum Sozialdemokraten taugt.
Ob sich der Kampf um die Klinik im Landkreis in einem demokratischeren und gerechteren Umgang mit dem System Krankenhaus niederschlagen wird, werden die kommenden Monate zeigen. Am Horizont zeichnen sich jedoch für die Kliniken Wolfhagen und Hofgeismar unter der Ägide des Landkreises und Agaplesion einige Finanzierungsschwierigkeiten ab. Hier wird deutlich: Im bundesdeutschen Krankenhaussystem gibt es zwischen Schließung und Unterfinanzierung nur die Wahl zwischen Schlecht und Schlecht.